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03. Juni 2019 verfasst von: Uli Schunk

Digitalisierung: "Vorne ist, wo sich keiner auskennt."

Es herrscht Goldgräberstimmung, sobald das Wort „Digitalisierung“ fällt. Aber auch wenn die Prognosen glänzend sind – gerade für mittelständische Unternehmen wandeln sich smarte Chancen nicht immer gleich in smarten Gewinn.

Was bedeutet Digitalisierung und wie wirkt sie sich für mittelständische Unternehmen aus? Welche Kompetenzen, welche Investitionen und Innovationen sind notwendig, damit Digitalisierung Früchte trägt? Fragen an Prof. Dr. Dr. Jivka Ovtcharova. Prof. Ovtcharova berät als Digitalisierungsexpertin Unternehmen und Institutionen, zum Beispiel auch die Europäische Union.


"Die Art und Weise, wie in Europa innovative Projekte gefördert werden, ist, als würde man 200 PS haben, aber im ersten Gang fahren." Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. Jivka Ovtcharova vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Gespräch mit euromicron. (© euromicron AG)

euromicron: Frau Prof. Ovtcharova, inwieweit ist die Digitalisierung im deutschen Mittelstand bereits angekommen?

  • OVTCHAROVA: Das ist sehr unterschiedlich. Zunächst sollten wir den Begriff klären und fragen: Was ist eigentlich Digitalisierung? Viele Menschen setzen Digitalisierung noch mit elektronischer Datenverarbeitung gleich. Aber die haben wir schon seit 50 Jahren und beherrschen sie. Digitalisierung hat eine neue Dimension – das ist die „Echtzeit-Fähigkeit“. Wir verdanken sie dem Internet. Die Art und Weise, wie wir heute kommunizieren in Social Media und im Internet, verlangt meist eine sofortige Antwort. Dieses Antworten in Echtzeit hat sich auf die Wirtschaft übertragen. Deshalb bedeutet Digitalisierung letztlich Echtzeit-Wirtschaft.

euromicron: Was heißt das für einen Fertigungsprozess?

  • OVTCHAROVA: Alles muss sehr schnell gehen. Ergebnisse liefern, kommunizieren, sofort entscheiden. Wir bewegen uns wirklich massiv aus der Serienproduktion in Richtung Einzellösungen und dezentrale Arbeitsplätze. Das Thema Schnelligkeit ist aber bei vielen Unternehmen – übrigens auch bei großen – noch nicht richtig angekommen. Zum Teil gibt es auch noch gar keine Systeme  dafür, Daten umfassend in Echtzeit auszuwerten. Wir arbeiten aber gerade mit mittelständischen Unternehmen erfolgreich daran, solche Lösungen zu finden.

euromicron: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

  • OVTCHAROVA: Ja, ein gutes Beispiel ist Ihre Firma ELABO, die mit ihrem Shop Floor Execution System eine Digitalisierungslösung für die mittelständische Fertigung geschaffen hat. Gemeinsam gehen wir sogar noch einen Schritt weiter und beziehen nicht nur die Maschinen, sondern auch die Menschen in das System ein. Diese Idee von ELABO ist sehr innovativ: Wir entwickeln zusammen ein neuartiges Konzept, das neben der Berechnung der Kapazitäten der Maschinen auch die Potenziale der Menschen berücksichtigt. Sie können sich vorstellen, dass diese  Betrachtung komplex ist. Aber auf diese Weise bilden wir Wirklichkeit deutlich umfassender ab.

Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. Jivka Ovtcharova ist Professorin für Informationsmanagement im Ingenieurwesen, Fakultät für Maschinenbau am renommierten „KIT“, dem Karlsruher Institut für Technologie. Sie hat in Sofia und Moskau studiert, in Maschinenbau sowie in Informatik promoviert und in der Fraunhofer-Gesellschaft und der Automobilindustrie bei General Motors gearbeitet. (© euromicron AG)

euromicron: Wie kann denn die Seite „Mensch“ quantifiziert werden?

  • OVTCHAROVA: Durch sehr genaue Aufgabenbeschreibung, Ermittlung der Kompetenzen und Qualifikationen des Einzelnen – das Konzept verlangt intensive Gespräche vorab. Diese Zeit muss ein Unternehmen aufbringen. Aber es lohnt sich: Wenn wir jeden einzelnen Mitarbeiter nach seinen Fähigkeiten richtig einschätzen, wissen wir, wer welche Aufgaben auf die beste Art und Weise erledigen kann. Die Produktionswirklichkeit dreht sich um: Zum ersten Mal in der Industriegeschichte haben wir die Chance, dass sich Prozesse an den Menschen anpassen und nicht umgekehrt. Ich spreche in diesem  Zusammenhang gerne über „Resourceful Humans“ – Menschen, die ihre individuellen Fähigkeiten gezielt einbringen. Das geht über Human Resources weit hinaus.

euromicron: Das heißt, Sie sind nicht der Meinung, dass die Digitalisierung den Menschen überflüssig macht?

  • OVTCHAROVA: Eine Statistik des Bitkom zeigt, dass mit der Digitalisierung bis zu 80 % neue Arbeitsplätze geschaffen werden, aber gleichzeitig bis zu 42 % der bestehenden Arbeitsplätze verloren gehen. Das ist einfache Arithmetik ... Übrigens können auch niedrig qualifizierte Arbeitsplätze bestehen bleiben – bei entsprechender Weiterbildung und Qualifikation. Die Mitarbeiter landen nicht zwangsläufig auf der Straße. Es wird Arbeit für alle geben, die bereit sind sich anzupassen. Wir werden aber sicher anders arbeiten.

euromicron: Lässt sich in der Arbeitswelt eine Trendwende ablesen?

  • OVTCHAROVA: Auf jeden Fall. Die Trendwende ist im Bereich der großen IT-Unternehmen schon da. Unternehmen wie Google oder Apple arbeiten nicht mehr nach einem festen Muster. Den Mitarbeitern steht eine offene, inspirierende Umgebung zur Verfügung, die locker ausgestaltet ist und viele Möglichkeiten bietet, nach den  eigenen Wünschen zu arbeiten. Das ist wichtig für die Kreativität – und die wird für die Digitalisierung dringend gebraucht.

Prof. Ovtcharova wurde jüngst mit dem „Inspiring 50 Award 2019“ ausgezeichnet. Er wir jedes Jahr von der Initiative „Women in Leadership“ an 50 inspirierende Vorbilder vergeben, um die Vielfalt in der Tech-Branche zu fördern. (© euromicron AG)

euromicron: Das hört sich tatsächlich gut an, aber kann der deutsche Mittelstand sich das leisten?

  • OVTCHAROVA: Nein, hier liegt eine wesentliche Hürde. Was vielen mittelständischen Unternehmen fehlt, sind die Ressourcen zum kreativen Experimentieren. Deshalb benötigen kleine und mittelständische Unternehmen so etwas wie eine Laborumgebung, in der sie ihre Ideen ausprobieren können. Dieses Konzept nennen wir Sandbox: Ein Sandkasten zum Spielen für Unternehmen – wir bieten das hier am KIT an. Die Unternehmen lernen spielerisch, neue Lösungen zu entwickeln. Dabei gehen sie kein Risiko ein und müssen nicht investieren, bevor sie wissen, ob ein Mehrwert entsteht.

euromicron: Warum ist denn Experimentieren so wichtig?

  • OVTCHAROVA: Wir leben in einer Zeit der Ungewissheit und Komplexität. Alles entwickelt sich schnell und unerwartet und dieser Trend wird sich weiter verschärfen. Wir müssen in der Lage sein, sehr schnell zu reagieren. Das setzt voraus, dass auch der Mittelstand nicht einfach gewohnte stabile Businessmodelle weiterführt, sondern bereit ist neue Wege zu gehen. Die Zeit ist reif, wirklich mit digitalen Geschäftsmodellen umzugehen. Drei Ansatzpunkte helfen, dabei zielgerichtet vorzugehen: Die Abbildung der Prozesse, die Analyse der Daten und schließlich die Darstellung der Ergebnisse in einer intelligenten, intuitiven Form als virtuelle Modelle. Letzteres ist für uns Menschen besonders wichtig: Mit „Virtual Reality“ können wir ein Produkt anschauen, mit ihm in Kontakt kommen und es sogar ausprobieren, noch bevor es physisch entsteht. Das entspricht sehr unserer Art zu denken und zu kommunizieren.

euromicron: Was sagt Ihre Erfahrung: Wie hoch ist die Erfolgsquote bei Digitalisierungsprojekten?

  • OVTCHAROVA: Dazu gibt es keine belastbaren  Statistiken, aber ich vermute, dass die Quote noch niedrig ist, weil die Vorgehensweise oft die falsche ist – das muss ich einfach ganz  offen sagen. Die Art und Weise, wie in Europa innovative Projekte gefördert werden, ist, als würde man 200 PS haben, aber im ersten Gang fahren. Warum? Weil man sicher sein will, dass nach einer bestimmten Zeit Geld zurückfließt. Das ist mit Innovation nicht zu vereinbaren. Wenn man wirklich vorn stehen will, muss man die Ungewissheit wagen. Vorn ist eben da, wo sich keiner auskennt.

Dem Thema Industrie 4.0 in mittelständischen Unternehmen widmet Prof. Ovtcharova an ihrem Lehrstuhl besondere Aufmerksamkeit. Ihr Team arbeitet an der Schnittstelle Computerwissenschaften, Informatik und Engineering, was Maschinenbau, Mechatronik, Anlagenbau und auch Bauwissenschaften einschließt. Mit der euromicron Tochter ELABO arbeitet die engagierte Professorin an der intelligenten Mensch-Maschine-Interaktion in der Fertigung. (© euromicron AG)

euromicron: Wie sollte ein Unternehmen die Digitalisierung angehen?

  • OVTCHAROVA: Es gibt keine Lösungen von der Stange – die individuelle Betrachtung ist wichtig. Aber wir haben eine ganz neue Methodik für die Reihenfolge der Investitionen: reale Probleme „in den Sandkasten setzen“, aufkommende Technologien spielerisch einsetzen, experimentieren, Wissen in Fähigkeiten umsetzen, digitale Kompetenz bei den Mitarbeitern aufbauen und dann die konkreten Änderungen in Geschäftsmodellen, Prozessen und Infrastruktur einleiten. Die digitale Kompetenz – also der Erwerb praxisnaher Erfahrungen im Umgang mit digitalen Technologien – ist sehr wichtig, damit das Unter-nehmen ein Gespür dafür bekommt, was wirklich wesentlich ist. Ist diese Praxis erst mal vorhanden, haben gerade kleine und mittlere Unternehmen durch ihre Anpassungsfähigkeit sehr gute Chancen in der Digitalisierung.

Frau Prof. Ovtcharova, noch eine letzte Frage: Wie gehen Sie selbst mit Digitalisierung in Ihrem Leben um?

  • OVTCHAROVA: Mit viel Neugierde und Mut, aber auch mit Realismus. Es gibt auch Gefahren, die man sehen muss – beim Umgang mit Daten zum Beispiel. Aber es gibt keinen Weg zurück. Die Digitalisierung und das Sichtbarmachen des  Unsichtbaren durch Virtual Reality – das ist unsere Zukunft. Und diese Zukunft ist schön.
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